Mehr als nur Verspannung
5 erstaunliche Wahrheiten, die Ihr Körper über Ihre Lebensgeschichte verrät
Wir alle kennen das Gefühl: Nach einem langen, stressigen Tag spüren wir die Anspannung als harten Knoten in den Schultern oder als unbewusstes Zähneknirschen in der Nacht. Wir nehmen unseren Körper oft als Behälter für Stress wahr, den wir durch Dehnung, Massage oder Sport wieder „leeren“ müssen. Doch diese Wahrnehmung kratzt nur an der Oberfläche dessen, was unser Körper wirklich ist.
Was wäre, wenn Ihr Körper nicht nur ein passiver Speicher für Stress, sondern ein lebendiges Archiv Ihrer gesamten Lebensgeschichte wäre? Was, wenn er die Schlüssel zu Ihren tiefsten Verhaltensmustern, vergessenen Ressourcen und Wegen zur Heilung in sich trüge? Genau dieser Frage widmet sich das Bodynamic-System, ein psychotherapeutischer Ansatz, der unser Verständnis von Körper und Psyche revolutionierte, indem er jahrzehntelang die präzise psychologische Bedeutung unserer Muskeln kartierte und dabei bahnbrechende Erkenntnisse lieferte.
1. Ihre Muskeln sind nicht nur verspannt – sie können auch „ausgecheckt“ sein

Die Idee, dass psychische Abwehrmechanismen sich als chronische Muskelverspannungen im Körper manifestieren, ist in der Körperpsychotherapie tief verwurzelt und geht auf Wilhelm Reich zurück. Er nannte dies den „Muskelpanzer“. Dieser Zustand, in dem ein Muskel ständig angespannt ist, um einen Impuls zurückzuhalten, wird im Bodynamic-System als hyper-responsiv bezeichnet. Es ist die klassische Verspannung, die wir alle kennen – eine Art „Zurückhalte“-Abwehr.
Doch die Begründerin des Bodynamic-Systems, Lisbeth Marcher, machte während ihrer Ausbildung eine unerwartete Entdeckung. Sie beobachtete, dass das „Erzwingen“ einer Entspannung bei verhärteten Muskeln manche Menschen nicht etwa mit neuer Energie versorgte, sondern sie stattdessen in eine Depression fallen ließ. Diese Beobachtung traf sie auf zutiefst persönliche Weise: Sie stürzte durch diese Behandlung selbst in die Schockzustände ihrer Kriegserfahrungen und wurde depressiv. Diese Erfahrung entfachte in ihr den Wunsch, das System zu verändern, um andere vor einem solchen Schicksal zu bewahren. Dies führte zu einer bahnbrechenden Erkenntnis: Es gibt eine zweite, völlig entgegengesetzte Art der muskulären Abwehr.
Diese zweite Reaktion nennt Bodynamic hypo-responsiv. Hier ist der Muskel nicht verspannt, sondern schlaff und unterreagiert. Anstatt einen Impuls zurückzuhalten, hat der Muskel den Impuls einfach „aufgegeben“. Es ist eine Abwehr, die auf Resignation beruht. Ein hyper-responsiver Muskel sagt: „Ich darf das nicht tun!“, während ein hypo-responsiver Muskel sagt: „Es hat sowieso keinen Sinn, es zu versuchen.“
Diese Unterscheidung ist revolutionär, denn hypo-responsive Muskeln benötigen einen völlig anderen therapeutischen Ansatz. Man versucht nicht, etwas loszulassen, was bereits aufgegeben wurde. Stattdessen geht es darum, den resignierten Impuls sanft wiederzuerwecken und dem Körper beizubringen, dass diese Handlung nun möglich ist. Auf diese Weise wird eine verloren geglaubte Fähigkeit zu einer neuen, verfügbaren Ressource.
2. Jeder Muskel erzählt eine präzise Geschichte aus Ihrer Kindheit

Das Bodynamic-System ist nicht bei der allgemeinen Idee stehen geblieben, dass der Körper psychische Themen speichert. Lisbeth Marcher initiierte ein beeindruckendes Forschungsprojekt, um diese Verbindung präzise zu kartieren. Über einen Zeitraum von fünf Jahren sammelte und analysierte sie fast 15.000 Sitzungsberichte, die sowohl von den Therapeuten als auch – und das ist entscheidend – von den Klienten selbst nach jeder Sitzung ausgefüllt wurden.
Das Ziel war, exakte Korrelationen zwischen bestimmten Muskeln, dem Entwicklungsalter, in dem sie motorisch aktiv werden, und den damit verbundenen psychologischen Themen herzustellen. Das Ergebnis ist eine detaillierte „Körper-Enzyklopädie“, die jedem Muskel eine spezifische psychologische Funktion zuordnet, die mit einer bestimmten Phase unserer Entwicklung zusammenhängt. Diese Phasen werden als „Charakterstrukturen“ bezeichnet, wie die Autonomie-Phase (8 Monate – 2,5 Jahre) oder die Willens-Phase (2 – 4 Jahre).
Ein faszinierendes Beispiel hierfür ist der Quadratus lumborum, ein Muskel im unteren Rücken. Die Forschung von Bodynamic hat gezeigt, dass dieser Muskel psychologisch mit dem Thema des Erkundens und der Interaktion mit der Welt verbunden ist. Warum? Weil er einer der Hauptmuskeln ist, die ein Kind beim Krabbeln in der Autonomie-Phase benutzt. Das physische Vorwärtskommen in die Welt ist untrennbar mit der psychologischen Fähigkeit verbunden, neugierig zu sein, zu erforschen und sich selbst als handelndes Wesen zu erfahren.
3. Ihr Körper speichert „Lebensanweisungen“ (und manche sind veraltet)

Unsere Interaktionen mit der Welt, insbesondere in der Kindheit, formen neuromuskuläre Muster, die wie unbewusste Anweisungen für unser späteres Verhalten wirken. Bodynamic nennt diesen Prozess „Kodierung“. Jede dieser Kodierungen ist ein komplexes Gefüge, das aus äußeren Fakten, inneren Körperempfindungen, Gefühlen und mentalen Interpretationen besteht, die in einem einzigen Moment zu einem unbewussten Verhaltensprogramm verschmelzen. Es gibt zwei Arten von solchen Kodierungen:
• Offene Kodierungen: Diese entstehen aus positiven, unterstützenden Erfahrungen. Sie führen zu einem Gefühl von Kompetenz, Freude und dem Wunsch nach Weiterentwicklung. Sie sind die Grundlage für unsere Ressourcen.
• Geschlossene Kodierungen: Diese entstehen aus negativen, schmerzhaften oder überfordernden Erfahrungen. Sie führen zu einschränkenden Überzeugungen und Verhaltensmustern, die uns später im Leben im Weg stehen.
Ein einfaches Beispiel aus dem Alltag veranschaulicht, wie eine geschlossene Kodierung entsteht: Die kleine Maria rennt voller Freude durchs Haus, ihr Vater spielt mit ihr. In einer Kurve rutscht sie auf einer kleinen Wasserlache aus und fällt. In diesem Moment stürzt ihre Mutter verängstigt herbei, hebt sie mitleidig auf, schimpft mit dem Vater für das „unverantwortliche Spiel“ und setzt sich mit Maria hin, um ihr zur Beruhigung eine Geschichte vorzulesen.
In Marias Körper und Geist wird durch diese Interaktion eine geschlossene Kodierung gespeichert, eine Art unbewusste Lebensanweisung: „Um Ecken rennen ist gefährlich; Papa verursacht Schmerz; Freude verschwindet; still sitzen ist sicher.“ Diese eine, scheinbar kleine Begebenheit kann eine bleibende körperliche und psychologische „Anweisung“ schaffen, die Marias Entscheidungen und ihr Verhalten über Jahre hinweg beeinflusst, ohne dass sie sich dessen bewusst ist.
4. Heilung bedeutet nicht nur loslassen, sondern körperliche „Ressourcen“ aufbauen

In vielen Therapieformen herrscht die Vorstellung vor, dass Heilung vor allem durch Katharsis geschieht – durch das „Loslassen“ von aufgestauter Spannung und traumatischen Erlebnissen. Aus der Bodynamic-Perspektive ist dieser Ansatz unvollständig und kann sogar schädlich sein. Dieser Ansatz wurde maßgeblich von der norwegischen Physiotherapeutin Lillemor Johnsen inspiriert, die entdeckte, dass bei manchen Klienten die Muskeln nicht verspannt, sondern unterspannt (hypo-responsiv) waren. Sie erkannte, dass diese Muskeln nicht loslassen, sondern sanft wiedererweckt werden mussten, um eine verlorene Funktion – eine Ressource – wiederherzustellen. Selbst ein Muskelpanzer ist eine Art Ressource, die einer Person geholfen hat, eine schwierige Situation zu überleben. Diesen Schutz einfach zu entfernen, ohne etwas an seine Stelle zu setzen, kann die Person ohne ihre notwendigen Abwehrmechanismen zurücklassen.
Das Ziel von Bodynamic ist daher nicht primär das Loslassen, sondern das Aufbauen neuer, gesünderer Ressourcen, die in der Entwicklung gefehlt haben. Dies geschieht durch die gezielte Aktivierung von hypo-responsiven (resignierten) Muskeln und das Einüben neuer, funktionaler Bewegungsmuster. Indem der Körper lernt, eine Bewegung auszuführen, die zuvor nicht möglich war, wird auch die damit verbundene psychologische Fähigkeit erlernt – zum Beispiel die Fähigkeit, Grenzen zu setzen, Unterstützung anzunehmen oder für sich selbst einzustehen.
Der entscheidende Punkt ist, dass diese neuen Verhaltens- und Seinsweisen automatisch und reflexartig verfügbar werden, anstatt ständige bewusste Anstrengung zu erfordern. Der Körper lernt eine neue Realität, die das Gehirn dann als gegeben akzeptiert.
Der Körper glaubt nicht an Worte allein. Er glaubt nur dann, dass etwas existiert, wenn er es gefühlt, gesehen, gehört, gerochen oder geschmeckt hat.
— Merete Holm Brantbjerg
5. Sie können in einer Krise Hoffnung schaffen, indem Sie Ihren Nacken bewegen und mit den Zehen wackeln

In einer Krise ist unsere natürliche Tendenz, zu erstarren. Wir fixieren die Bedrohung und bleiben in der Frage stecken: „Warum ist das passiert?“ Wir suchen nach einem Schuldigen oder einer Erklärung, in der Hoffnung, dass dies das Problem löst. Doch das tut es nicht. Es hält uns in der Vergangenheit gefangen und lähmt uns.
Die Bodynamic-Expertin für Krisenarbeit, Ditte Marcher, erklärt, dass diese psychologische Neuorientierung mit einer physischen beginnt. In ihrer Arbeit beschreibt sie zwei einfache Übungen, die jeder anwenden kann, um den Fokus zu verlagern auf die Frage: „Was können wir jetzt tun?“ und aus der Schockstarre auszubrechen:
1. Den Nacken neu ausrichten: Bewegen Sie Ihren Kopf sanft und bewusst in alle Richtungen. Schauen Sie nach links, rechts, oben und unten. Diese simple Bewegung aktiviert unseren Orientierungsreflex. Sie signalisiert dem Gehirn, dass wir den Blick von der Bedrohung abwenden und andere Möglichkeiten in unserer Umgebung wahrnehmen können. Es ist der erste Schritt, um zu erkennen, dass es einen Ausweg gibt.
2. Die Füße erden: Stellen Sie sich hin und beugen Sie die Knie leicht – sie sollten nicht durchgedrückt sein. Greifen Sie nun bewusst mit Ihren Zehen in den Boden, so als wollten Sie sich festhalten. Diese Handlung verbindet Sie wieder mit Ihrer physischen Realität und Ihrer Fähigkeit, sich vorwärtszubewegen. Sie spüren den Boden unter Ihren Füßen, der Sie trägt.
Diese einfachen körperlichen Bewegungen können einen Zustand der angstbasierten Lähmung unterbrechen. Sie senden kraftvolle Signale an das Gehirn, dass wir handlungsfähig sind – und Handlungsfähigkeit ist die Grundlage für Hoffnung.
Schlussfolgerung
Unser Körper ist mehr als nur eine Hülle; er ist ein intelligentes, lebendiges Archiv unserer persönlichen Geschichte. Er birgt nicht nur unseren Schmerz und unsere Abwehrmechanismen, sondern auch eine präzise Landkarte zu unseren angeborenen Ressourcen und unserem Potenzial für Ganzheit. Zu lernen, auf seine Sprache zu hören, bedeutet, die tiefsten Wahrheiten über uns selbst zu entdecken und den Weg nach Hause zu unserem authentischen Selbst zu finden.

Wenn Ihr Körper heute sprechen könnte, welche vergessene Stärke oder ungelebte Geschichte würde er Ihnen erzählen?
