Wie dein Körper lernt, auf eigenen Füßen zu stehen
Mehr als nur ein Sprichwort
Wir alle kennen das deutsche Sprichwort „auf eigenen Füßen stehen“. Es steht für Unabhängigkeit, Autonomie und die Fähigkeit, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber haben Sie sich jemals gefragt, was es aus einer rein körperlichen Perspektive wirklich bedeutet, eine eigene Haltung zu haben und seinen eigenen Weg zu gehen?
Das Bodynamic-System ist ein psycho-somatischer Ansatz, der genau diese metaphorischen Konzepte direkt mit der Funktion und der Entwicklungsgeschichte unserer Muskeln verbindet. Die Bodynamic-Forschung zeigt, dass die psychomotorische Entwicklung – das, was der Körper lernt – oft der kognitiven Entwicklung vorausgeht und die Grundlage für spätere emotionale und soziale Fähigkeiten bildet. Unsere psychologischen Fähigkeiten, wie das Setzen von Grenzen oder das Vorankommen im Leben, entstehen nicht nur im Kopf. Sie werden in der Kindheit durch motorische Meilensteine wie Krabbeln, Greifen und Laufen buchstäblich erlernt und im Körper gespeichert.
Dieser Beitrag beleuchtet einige überraschende Erkenntnisse aus der Bodynamic-Perspektive. Sie werden sehen, wie tief unsere Fähigkeit zur Selbstständigkeit in unserem Körper verankert ist und wie wir lernen können, auf die Weisheit unserer Muskeln zu hören, um unseren Weg im Leben zu finden.
Die überraschenden Wahrheiten darüber, wie wir lernen, unseren eigenen Weg zu gehen
Erkenntnis 1: Deine „Haltung zum Leben“ ist wörtlich in deinen Rücken- und Beinmuskeln verankert

Im Bodynamic nennen wir unsere grundlegende Haltung zum Leben die Ego-Funktion „Positionierung“ (Positioning). Diese beschreibt, wie wir uns im Leben positionieren, wie wir Herausforderungen begegnen und wie wir unsere innere Haltung wahren. Das Verblüffende ist, dass diese psychologische Fähigkeit direkt mit der Funktion spezifischer Muskelgruppen zusammenhängt.
• Der Rückenstrecker (Erector spinae): Dieser lange Muskel entlang der Wirbelsäule ist nicht nur für eine aufrechte Körperhaltung zuständig. Seine psychologische Funktion ist es, „die Würde in stressigen Situationen zu wahren“ – zum Beispiel, indem wir den Kopf hochhalten, statt uns kleinzumachen. Er hilft uns auch, buchstäblich „am Leben festzuhalten“, wenn es schwierig wird.
• Der Schollenmuskel (Soleus): Dieser Muskel in unseren Waden spielt eine entscheidende Rolle für unsere Stabilität. Im Rahmen der Positionierung ist seine Funktion, uns zu ermöglichen, „auf eigenen Füßen zu stehen“ (Standing on one’s own).
Unsere Fähigkeit, im Leben standhaft zu sein, ist also keine rein mentale Einstellung. Sie ist eine trainierte und körperlich spürbare Realität. Nehmen Sie einen Moment, um Ihre Wirbelsäule aufzurichten. Spüren Sie, wie diese kleine Haltungsänderung nicht nur Ihren Körper, sondern auch Ihr inneres Gefühl von Würde und Präsenz beeinflusst?
Erkenntnis 2: Das Recht, „Nein“ zu sagen, hast du in deinen Armen trainiert

Die Fähigkeit, persönliche Grenzen zu setzen, ist ein Grundpfeiler der Autonomie. Im Bodynamic-Modell entwickelt sich diese Fähigkeit maßgeblich in der „Willens-Struktur“ (Will) im Alter von zwei bis vier Jahren. In dieser Phase lernen wir, unsere Absichten durchzusetzen und unseren eigenen Willen zu entdecken.
Auch hier ist die Verbindung zum Körper direkt: Die Fähigkeit, „Nein“ zu sagen und Grenzen zu setzen, ist eine körperliche Handlung, die wir in den Muskeln unserer Arme erlernt haben. Sie gehört zur Ego-Funktion „Interpersonelle Fähigkeiten“ und der spezifischen Unterfunktion „Wegstoßen und auf Abstand halten“.
• Der Trizeps (Triceps brachii): Dieser Muskel auf der Rückseite des Oberarms ist der klassische „Wegstoß-Muskel“. Mit ihm haben wir als Kleinkinder gelernt, Gegenstände oder auch Personen physisch auf Distanz zu halten.
• Der Handstrecker (Extensor carpi radialis): Dieser Muskel im Unterarm ist direkt mit der Geste für „Stopp“ und einem unmissverständlichen, absoluten „Nein“ verbunden.
Diese Fähigkeit wurzelt in ganz konkreten kindlichen Handlungen, wie dem Wegstoßen eines Spielzeugautos auf dem Boden oder dem Fangen eines großen Balls – Bewegungen, mit denen wir lernten, unsere Absicht in der Welt durchzusetzen. Es ist erstaunlich zu erkennen, dass eine so wichtige soziale Fähigkeit ihre Wurzeln in der einfachen, aber kraftvollen Bewegung hat, etwas von sich wegzustoßen.
Erkenntnis 3: Vorwärtskommen beginnt mit unblockierten Knien

Fühlen Sie sich manchmal im Leben festgefahren, als gäbe es keinen Ausweg? Eine zentrale Erkenntnis aus der Bodynamic-Praxis ist, dass unsere Fähigkeit, im Leben voranzukommen und Hoffnung zu schöpfen, eng mit der Flexibilität unserer Knie und der Aktivierung unserer hinteren Oberschenkelmuskulatur (Hamstrings) verbunden ist.
Viele Menschen neigen dazu, in stressigen Situationen die Knie durchzustrecken oder zu „blockieren“. Diese körperliche Blockade schränkt unsere Fähigkeit ein, die Hamstrings zu nutzen, die für den „Schwung nach vorne“ (forward momentum) entscheidend sind. Wenn unser Körper nicht in der Lage ist, die Bewegung des Vorwärtsgehens einzuleiten, kann sich das psychologisch als Gefühl des Feststeckens manifestieren. Wir sehen buchstäblich keinen Weg nach vorne.
Die Mitbegründerin von Bodynamic, Ditte Marcher, beschreibt diese Verbindung so:
„Wenn wir nicht vorwärtskommen können, weil unsere Knie überstreckt oder leicht eingeknickt sind und wir die Realität, in der wir stehen, nicht wirklich erfassen können, dann werden wir bei der Orientierung ohnehin keinen Ausweg sehen können… und das kann sehr leicht einen Zustand in einer Person hervorrufen, in dem sie beginnt, die Hoffnung zu verlieren.“
Diese Erkenntnis bietet eine einfache, aber tiefgreifende praktische Übung: Das bewusste Lockern der Knie kann der erste körperliche Schritt sein, um aus einer mental oder emotional festgefahrenen Situation herauszukommen.
Erkenntnis 4: Deine Autonomie wurde beim Krabbeln und Greifen aufgebaut

Die Bodynamic-Charakterstruktur „Autonomie“ entwickelt sich im Alter von etwa 8 Monaten bis 2,5 Jahren. Dies ist eine Zeit der motorischen Explosion: Das Kind lernt zu krabbeln, zu greifen, sich hochzuziehen und die Welt auf eigene Faust zu erkunden. Diese motorischen Errungenschaften legen die psychologische Grundlage für unsere spätere Fähigkeit, selbstständig zu handeln und persönliche Grenzen zu entwickeln.
• Krabbeln (Der Quadratische Lendenmuskel, Quadratus lumborum): Dieser Muskel im unteren Rücken ist einer der Hauptmotoren für das Krabbeln. Seine psychologische Funktion ist mit dem Erkunden und Interagieren mit der Welt verbunden. Die Fähigkeit, neugierig auf die Welt zuzugehen, wurde hier motorisch grundgelegt.
• Greifen (Der oberflächliche Fingerbeuger, Flexor digitorum superficialis): Die Muskeln, die unsere Finger beugen, ermöglichen es uns, nach Dingen zu greifen und sie festzuhalten. Psychologisch entspricht dies dem Thema „Nach Kontakt greifen und daran festhalten“.
Unsere heutige Fähigkeit, Projekte eigenständig anzugehen, uns mit neuen Themen zu beschäftigen und die Welt zu „begreifen“, baut auf diesen fundamentalen motorischen Mustern auf, die wir als Kleinkinder trainiert haben.
Erkenntnis 5: Frühe „Stürze“ können Angst in deine Bewegungen kodieren

Warum fällt es uns manchmal so schwer, unseren eigenen Weg zu gehen, obwohl wir es rational wollen? Das Bodynamic-Konzept der „Geschlossenen Codes“ (Closed Codes) gibt eine Antwort. Es beschreibt, wie negative Erfahrungen zu unbewussten, körperlich gespeicherten Verhaltensmustern werden, die uns zurückhalten.
Ein Beispiel aus der „Body Encyclopedia“ illustriert dies: Ein kleines Mädchen namens Maria rennt freudig um eine Ecke, rutscht aus und stürzt. Die Eltern reagieren panisch und vorwurfsvoll. Anstatt getröstet zu werden und zu lernen, dass Stürze passieren, verknüpft Marias Nervensystem die Erfahrung zu einem vielschichtigen geschlossenen Code: „Spielerisches Herumrennen um Ecken ist gefährlich, und die Freude verschwindet; Papa verursacht Schmerz (den Schmerz des Sturzes), also ist Papa ein Dummkopf; Mama hat Angst, und Maria hat Angst. Still zu sitzen und einer Geschichte zuzuhören ist sicher, also hat Mama mich gerettet.“
Dieser Code ist nicht nur eine Erinnerung, sondern wird physisch in einem Netzwerk von beteiligten Muskeln und Geweben verankert, darunter Der lange Wadenbeinmuskel (Peroneus longus), Der Schneidermuskel (Sartorius), Der Tractus iliotibialis (ein Faszienstreifen am Oberschenkel) und Der große Rundmuskel (Teres major) in der Schulter. Als Erwachsene wundert sich Maria vielleicht, warum sie sich bei schnellen, freudvollen Bewegungen unbewusst zurückhält oder zögert, Risiken einzugehen. Ihr Körper erinnert sich an die „Gefahr“ von damals und bremst sie aus, ohne dass ihr Verstand den Grund dafür kennt.
Schlussfolgerung: Dein Körper kennt den Weg

„Auf eigenen Füßen zu stehen“ ist keine reine Willensentscheidung, sondern eine tief im Körper verwurzelte Fähigkeit. Sie wird durch unsere motorische Entwicklung geprägt, in unseren Muskeln gespeichert und durch unsere Lebenserfahrungen geformt.
Das Verständnis dieser Zusammenhänge gibt uns eine völlig neue Möglichkeit, mit Gefühlen des Feststeckens, der Unsicherheit oder der Kraftlosigkeit umzugehen. Anstatt nur im Kopf nach Lösungen zu suchen, können wir lernen, auf die subtilen Signale unseres Körpers zu hören. Es geht nicht darum, Fehler in unserer Entwicklung zu finden, sondern darum, die im Körper gespeicherten Ressourcen wiederzuentdecken, die uns jederzeit zur Verfügung stehen. Unser Körper zeigt uns, wo wir blockiert sind, welche Ressourcen uns zur Verfügung stehen und welcher nächste Schritt aus einer körperlichen Perspektive möglich ist.
Wenn du das nächste Mal das Gefühl hast, festzustecken – welche Haltung nimmt dein Körper gerade ein, und was versucht er dir damit zu sagen?
